Le Havre

In der Wikipedia finden sich nun auch vermehrt Informationen über einzelne Spiele. So auch zu Le Havre. Wer etwas über die französiche Stadt an der Atlantiküste erfahren möchte bekommt direkt auch einen kleinen Artikel zum Spiel vorgeschlagen. Lakonisch bringt er das Spielgefühl auf den Punkt:

Ähnlich wie bei Agricola oder Puerto Rico konkurrieren die Spieler in jeder Runde um verschiedene Aktionsmöglichkeiten. Darüber hinaus gibt es vergleichsweise wenig Interaktion. „Le Havre“ richtet sich an fortgeschrittene Spieler.

Wow. – Besser könnte ich es auch nicht formulieren. Parallelen zu Puerto Rico waren mir zwar noch nicht aufgefallen, doch etwaige Ähnlichkeiten mit Agricola wollte ich natürlich auch untersuchen. Diese sind wohl weitreichender als sich unmittelbar aufdrängt. Denn der Wikipedia Eintrag zu Agricola (dem Spiel, nicht dem Asteroiden) ist zwar etwas geschwätziger, doch er enthält einen ebenso genialen Kern:

Ähnlich wie bei Caylus oder Puerto Rico konkurrieren die Spieler in jeder Runde um verschiedene Aktionsmöglichkeiten. Darüber hinaus gibt es vergleichsweise wenig Interaktion. Agricola richtet sich an fortgeschrittene Spieler(…)

Es ist kaum zu glauben, doch diese beiden Fragmente enthalten die gesamte Komplexität von Le Havre. Um dies zu verdeutlichen, muss ich jedoch zunächst kurz den Spielablauf schildern:

Runde um Runde gilt es eine eigene Stadt aufzubauen. Jeder einzelne Zug ist für sich sehr einfach. Zuerst werden in einer kleinen Verwaltungsphase jeweils zwei Güter auf den Markt geworfen. Dann nimmt sich der Spieler entweder alle verfügbaren Waren einer Sorte, oder er setzt seinen Spielstein in ein Haus, um dessen spezielle Funktion zu aktivieren. Zum Beispiel erlauben einige Häuser den Bau neuer Häuser gegen Abgabe von Waren. Andere veredeln Waren oder wandeln Waren in Geld. Auch Häuser der Mitspieler dürfen gegen Zahlung einer kleinen Provision betreten werden. Nach sieben solcher Züge endet eine Runde, und alle Spieler müssen sich mit Fisch, Fleisch oder Brot ernähren oder mit Geld einen Eintopf kaufen. Gegen Hunger helfen auch Schiffe, die in Werften gebaut werden. Abhängig von der Spielerzahl endet das Spiel nach etwa 20 Runden mit einer letzen Aktion für jeden Spieler. Zu viert hat also jeder Spieler 36 Aktionen. Dann werden die gebauten Häuser und Schiffe in Geld umgerechnet, und der reichste Spieler springt jubelnd an die Decke.

Eine größere Menge kleiner Details wie Schuldscheine, Sondergebäude und immer größerer Hunger komplettieren das Spiel.

Le Havre

Damit wird die Ähnlichkeit zu Agricola offensichtlich: Agricola stammt nicht nur vom selben Autor und erschien im selbem Verlag, es gibt auch Waren, hungernde Spieler, und sogar die Spielsteine gleichen sich.

Nebenbei: In Wirklichkeit ist Agricola natürlich wie die Siedler von Catan. Das ist nicht ironisch oder abfällig gemeint. Genauso wie Siedler ist Agricola ein fantastisches Spiel mit hohem Suchtfaktor, das Lust auf mehr komplexe Spiele macht. Agricola begeistert sogar Mitspieler, die bei solch aufwendigen Spielen normalerweise gleich abwinken. Das liegt nicht nur am vordergründig friedlichen Mechanismus, sondern meiner Meinung nach am Setting: „Romantischer Bauernhof vor kitschigem Sonnenuntergang“. Beide Spiele vermitteln an jung und alt, Männlein wie Weiblein das Gefühl, in einer verklärter Mittelalterwelt zu leben, mit intaktem Dorfleben und echter, ehrlicher Arbeit, die sich lohnt. Während der Bauer den Baum fällt, spinnt die Bäuerin die Wolle, und die Kinder planschen im nahen Meer. – Schöne alte Welt ohne Pest und Cholera.

Klar, auch bei Le Havre konkurrieren die Spieler um Aktionsmöglichkeiten. In der modernen Hafenstadt gibt es aber ungleich mehr Platz und Optionen der Entfaltung. Von Konkurrenz ist über lange Strecken des Spiel wenig zu spüren. Nur gegen Ende, wenn eigentlich genug Platz für jeden vorhanden sein sollte, wollen mit einem Male alle in die gleichen Gebäude. Da Uwe Rosenbergs Franzosen allerdings genauso kugelfett sind wie seine mittelalterlichen Bauern, ist jedes Gebäude schon mit einer Person verstopft.

Auch zu Puerto Rico finden sich offensichtliche Parallelen. Das beginnt schon beim Hafen im Namen. Beide Spiele drehen sich auch irgendwie um Schiffe und Gebäude. Puerto Rico kennt zwar keine Konkurrenz um Aktionsmöglichkeiten, bietet dafür aber die Rollenwahl zur variablen Aktionsreihenfolge, von der sich in Le Havre nichts wiederfindet.

Aus der Ähnlichkeit von Le Havre zu Agricola folgt per Transitivitätsargument nun auch die Ähnlichkeit zu Caylus. In beiden Spielen gehören Gebäude zwar einzelnen Spieler, können aber von allen genutzt werden. Beide Spiele sind auch in Frankreich angesiedelt. Ach, ja: verschiedene Aktionskmöglichkeiten gibt es natürlich auch, wie auch bei Siedler.

Eine große Ähnlichkeit haben alle vier Spiele in den interaktiven Elementen. Es scheint, als würde jeder sein eigenes Süppchen köcheln, es gibt keine Auktionen, keinen Handel, noch nichtmal fiese Aktionskarten. Im Sinne von „Interaktion ist, wenn böse Blicke über den Spielplan geworfen werden“ bieten alle vier Vertreter ihrer Zunft vielfältige Interaktionsmöglichkeiten. Auch bei Le Havre sind sie nicht offensichtlich. Es bedarf schon einiger Partien, um den Spielrhythmus zu kontrollieren, bevor man genauer das Tun und Lassen der Mitspieler beäugen wird. Dann bekommt der 7er Rythmus eine enorme Bedeutung. Er steuert, wer den ersten Zugriff auf ein besonders lukratives Schiff erhält, oder wer nur eine Aktion zwischen zwei Ernährungsphasen bekommt. Da lohnt es durchaus, etwas länger in der Werft oder im Schlachthof stehen zu bleiben und schmunzelnd den lieblichen Flüchen der anderen zu lauschen.

Wer sich auf Le Havre einlässt, sollte Zeit und Muße mitbringen. Eine Partie reicht kaum, um das Zusammenspiel aller Mechanismen zu erfassen. Die Regeln greifen aber durchaus inituitiv ineinander. Das Material enthält alle wichtigen und unwichtigen Informationen, manche sogar doppelt. (Besonders erwähnenswert ist die Prüfziffer zum Test, dass der Aktions-Essens-Rythmus korrekt eingehalten wurde.)

Jeder Mitspieler sollte auch entspannte 60 Minuten mitbringen, denn Le Havre ist ein langes Spiel. Sitzen nur fortgeschrittene Le Havre Kenner am Tisch, kann das Spiel auch etwas flotter vonstatten gehen. Wenn auch nicht permanent knisternde Spannung in der Luft liegt, werden die Spieler durchaus über die ganze Spieldauer gut unterhalten. Die knackige Kürze eines Puerto Rico fehlt dem Spiel aber. Während bei Caylus die Endphase öfters zu lange dauert, nimmt sich Le Havre eher in der Eröffnung etwas zu viel Zeit.

Dies hat aber einen guten Grund. Le Havre ist nämlich kein Spiel für Pfennigfuchser und Optimierungsfreunde. Das Motto zum Sieg lautet stattdessen: „Think Big!“ Schulden sind keine Schande, es lohnt auch nicht jeden eingenommenen oder ausgegebenen Franc genau nachzuhalten. Wichtiger ist der Fokus auf den großen Plan. Reicht die Zeit und stimmt das Timing für den Luxusdampfer? Oder sind alle wertvollen Waren rechtzeitig produziert? Dabei gibt es auch viele Details zu beachten. Wer aber nur im Kleinen taktiert, dem fehlt Strategie, die zu den wirklich großen Einnahmen führt. Gute Pläne nehmen durchaus 10 Runden in Anspruch. Die der anderen schon langfristig zu erkennen und zu durchkreuzen, ist recht erheiternd.

Wie bei anderen guten Spielen gibt es viele erfolgsversprechende Optionen zum Sieg. Wegen der hohen Spieldauer ist es leider nur schwer möglich, sie alle genauer zu erspielen. Einmal erfolgreich durchgeführte Strategien werden somit gerne wiederholt und voneinander abgespielt. Mehr Spaß macht es aber, neue Strategievarianten zu erproben. Wenn in einer Spielerrunde der Marktplatz, der Kauf des Bauunternehmens oder der Startspieler übermäßig mächtig erscheint, lohnt vielleicht der Versuch, mit unerwartetem Handlungen frischen Wind ins Spiel zu bringen. Vielleicht lohnt es auch, viel Fische und Brot zu horten und die Kirche mal genauer zu testen. Vielleicht funktioniert es auch, Nahrung völlig zu vernachlässigen oder sich nur aufs Verschiffen zu konzentrieren. – Leider konnte ich noch längst nicht alle Ideen ausprobieren.

Kleine Details runden das Spiel ab. So ermöglichen in jedem Spiel sechs zufällige Sondergebäude weitere Optionen. Das Siegpunktpotential dieser Gebäude ist durchaus beträchlich. Auch mit ihnen kann man gewinnen. Ein genauere Blick lohnt sich auch auf die originell von Klemens Franz gestalteten Grafiken, die kleine Geschichten aus der Spielwelt erzählen.

Einigen dauert Le Havre zu lange. Wegen des nur langsam ansteigenden Spannungsbogens kommt nach der ersten Partie manchmal die Frage auf, ob sich eine weiter Beschäftigung mit dem Spiel überhaupt lohnt. Auch im zweiten Spiel kommt nicht unbedingt sofortige Begeisterung auf. Wer sich jedoch intensiver mit den Möglichkeiten auseinandersetzt, sieht bald, dass die vermeintlich im Überfluss verfügbaren Aktionen in Wirklichkeit knapp bemessen sind. Mit dieser Erkenntnis steigt die Spannung und die Lust auf weitere Partien.

Neben den Freunden komplexer Wirtschaftsspiele spricht Le Havre noch eine zweite Zielgruppe an: die anspruchsvollen Genussspieler. Le Havre eignet sich perfekt, um auf hohem Niveau einen langen sonnigen Sonntagnachmittag zu vertrödeln. Dann stört es nicht, wenn das Spiel eine Stunde länger dauert als geplant, oder ein paar nutzlose Aktionen die Gesamtstrategie verlangsamen.

Alles in allem bietet Le Havre wenig Neuartiges, aber viel Gutes. Uwe Rosenberg hat zwar als fortgeschrittener Autor aus bekannten Elementen ein fein abgestimmtes komplexes Spiel geschaffen. Wer aber nur ein zweites Agricola, Puerto Rico oder Caylus erwartet, wird jedoch zum Glück enttäuscht werden.


2 von 3 Rosen

Prädikat
:
2 von 3 Rosen

3 Kommentare

  1. Hallo,
    wir haben das Spiel zu Weihnachten gespielt. Mein Schwiegersohn brachte es mit und hatte es schon mehrmals mit meiner Tochter gespielt. Wir brauchten 3 einhalb Stunden. Mein Sohn (34) und ich fanden nie ins Spiel. Absolut unübersichtlich! Viel zu viele Sachzwänge! Erneut ein Spiel mit Rohstoffen. Ja, gibt es denn keines mehr ohne? Genial, was da Uwe Rosenberg entwickelt hat, nur frage ich mich, für welche Zielgruppe. Nein, keine angenehmen Spielstunden!

    • Hallo Helmut,

      in der Tat: Le Havre dauert verdammt lange. Doch darauf wird in der Regel und unserer Kritik sehr deutlich hingewiesen. „Übersichtlich“ ist auch kein Prädikat, das auf Le Havre zutrifft.

      Falls du dich aber an Le Havre trotz deiner negativen Erfahrung nochmal versuchst, so ignoriere die Sachzwänge! Mit ein klein wenig Erfahrung zeigt sich, dass Le Havre eben nicht nur ein weiteres Rohstoffverwaltungsspiel für Freaks ist. Der erste Eindruck trügt – mir kam Le Havre fürs das Gebotene zunächst auch zu kleinteilig und lang vor!

  2. Peter, was Du vom „anspruchsvollen Genussspieler“ schreibst, der einen gemütlichen Sonntagnachmittag damit verbringt, empfinde ich auch so. Trotz der scheinbar kleinteiligen Züge entwickeln sich bei Le Havre richtige (und sehr unterschiedliche) Geschichten (übrigens meiner Ansicht nach genau wie auch bei Agricola und anders als bei Loyang, ohne damit ein Urteil über eins davon abgeben zu wollen). Es sind natürlich alles kapitalistische Geschichten vom Aufstieg einer kleinen Firma …

    Helmut: Wenn Du grundsätzlich keine Rohstoffe magst, ist es vielleicht das falsche Spiel. Aber ich finde schon, dass in Le Havre Rohstoffe dadurch besonders interessant behandelt werden, dass man sie veredeln kann. Und die thematische Anbindung ist sehr gut – vergleich mal mit Stone Age, wo sich Rohstoffe nur durch den „Preis“ unterscheiden.

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