Erstveröffentlichung im April 2008 in der Fairplay 83.
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Katastlophe bei Hofe

Die alten Chinesen gelten uns Europäern in vielerlei Hinsicht als Vorbild. Etliche Errungenschaften werden ihnen zugeschrieben. Man denke nur an Schwarzpulver und Seide, Papier und Tee. Besonders brisant ist dabei das Schwarzpulver. In Europa fand es primär einen kriegerischen Einsatz. In China peppte man damit lieber Parties durch ein zünftiges Feuerwerk auf.

Nicht ganz so bekannt ist die umwerfende chinesische Fähigkeit des Hellsehens. Zumindest in einem ganz speziellen Jahr müssen es die Astrologen im Land der Mitte draufgehabt haben. Jedenfalls konnten sie damals genau Bescheid geben, wann welches Unheil über das Land kommt. Dummerweise vergaßen sie dieses Können schon kurz darauf wieder vollständig.

Vollständig? Nein, eine kleine Spieler-Schar darf sich an diese so glorreiche wie kurze Blüte der Wahrsager erinnern. Bei dieser Zeitreise begeben sie sich um etwa 1000 Jahre zurück und spielen IM JAHR DES DRACHEN den Fürsten einer unbenannten chinesischen Provinz. Bei den Spielvorbereitungen wird der Hellseher bemüht. Dieser gibt genau Bescheid, in welchem Monat welches Unheil über die Spielerschaften hereinbricht.

Mit diesem Wissen gewappnet startet das Jahr. Hauptaufgabe ist zum einen die Bewältigung all dieser Schwierigkeiten, Hilfe erhält man dabei durch sein Personal. Hat man zunächst nur zwei Untergebene, so kommen im Laufe des Jahres elf weitere hinzu jeden Monat einer. Doch die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ist weit reichend. Denn wer seine Paläste nicht genügend ausbaut und damit zu wenig Wohnraum anbietet, muss Mitarbeiter wieder entlassen. Die Ereignisse können ebenfalls zum Verlust treuer Diener führen. Neben Hungersnöten oder Krankheiten wird der Personalstamm durch die Steuern oder einen Mongolensturm bedroht. Diese ständigen Schicksalsschläge kann man praktisch nie vollständig abwehren. Noch schlimmer: Wer sich auf den Schutz seiner Besitzungen und deren Bewohner konzentriert, kann sich nicht um die gewinnbringenden Investitionen kümmern. Zu starkes soziales Engagement zahlt sich nicht aus. Kollateralschäden sind nahezu unvermeidlich.

Doch hübsch der Reihe nach. In einer Spielrunde werden zunächst Aktionen ausgeführt, bei denen man Ressourcen sammelt. Mit den passenden Angestellten erhöhen sich die Erträge. Nach dieser Vorbereitung konsultiert man die hofeigene Personalabteilung und entscheidet sich für einen neuen Mitarbeiter. Nachdem das Ereignis des aktuellen Monats seine Wirkung zeigte, kommt schließlich der Ertrag in Form von Siegpunkten. Ressourcen, Personen, Ereignisse, Siegpunkte! Um all diese Begriffe zu erläutern und deren Möglichkeiten zu schildern, müsste man fein säuberlich viele Liste abarbeiten. Und jedes Element dieser Listen wirkt sich unmittelbar auf die anderen aus. Keine leichte Aufgabe für den Erklärer!

Begleiten wir exemplarisch die Hungersnot quer durch die Spielphasen: Wie jedes der sechs möglichen Ereignisse kommt sie zwei Mal über die Provinz. Jeder Palast muss mit einem Reissack versorgt werden. Bei unzureichender Ernährung verhungert pro unversorgtem Palast ein Bewohner. Ob in einem dieser Gemäuer nur ein einzelner Bewohner untergebracht ist, oder sich eine Wohngemeinschaft aus drei Untergebenen zusammengefunden hat, spielt dabei keine Rolle. Um einen der wichtigen Reissäcke zu erhalten, wählt man die Aktion „Ernte“. Wenn man vorher einen Bauern eingestellt hat, wirft diese Aktion mehr als einen Reissack ab. Ein junger Bauer pflückt einen zusätzlichen Reissack; der erfahrene ältere Kollege füllt zwei Säcke. Alles mit derselben Aktion!

Wieso sollte man der Jugend den Vorzug geben – der alte Knacker schuftet doch wie verrückt gegen das Frührentnertum an und trägt so viel effektiver zur Versorgung bei? Nun, da ist zum einen das eingeschränkte Angebot an Arbeitskräften. Nur wenige der erfahrenen Personen sind überhaupt verfügbar, so dass gar nicht jeder Spieler zum Zuge kommt. Jeder muss sich gut überlegen, in welchen Berufen er Wert auf besondere Leistungen legt. Viel kniffliger wird das Ganze jedoch über die Verzahnung der Personen mit der Spielreihenfolge. Denn jede eingestellte Person bringt ihrem Arbeitgeber so genannte „Personenpunkte“ ein. Und hier punkten die Jungspunde deutlich mehr. Wer aktuell die meisten Personenpunkte besitzt, ist Startspieler und darf jeweils zuerst agieren. Also doch lieber auf junge Mitarbeiter setzen? Wofür ist die Spielreihenfolge eigentlich wichtig?

Zurück zum obigen Beispiel: Die Reis-Ernte ist nur mit der passenden Aktion möglich. Die sieben verfügbaren Aktionen werden in Gruppen aufgeteilt, pro Spieler eine. Der Startspieler hat die freie Wahl. In der von ihm ausgesuchten Gruppe darf er eine der angebotenen Aktionen durchführen. Dennoch blockiert er die gesamte Gruppe. Wer weiter hinten sitzt, muss für die nochmalige Nutzung einer Aktion zahlen. Das schmerzt, wenn man etwa fürchterlich hungrig ist und ganz dringend eine bereits besetzte Ernte benötigt. Und Geld erhält man wiederum nur über eine andere Aktion. Wer also chronisch hinten sitzt in der Spielreihenfolge, muss nehmen was übrig bleibt. Als Ausweg bleibt nur, auf jegliche Aktion zu verzichten und die eigenen Bargeldbestände aufzustocken. Im nächsten Monat ist man damit für die Zahlung von Zweitnutzungen gewappnet. Um den Unbillen der Ereignisse entgegenzuwirken, ist dies aber insgesamt sehr hinderlich.

Noch einmal das Reis-Beispiel: Vorhin war die Rede von der Dreier-WG. Die kann übrigens recht lustig zusammengewürfelt sein. Ob sich im wirklichen Leben tatsächlich die Hofdame auf das Zusammenleben Tür an Tür mit einem Bauern und einem Handwerker einlassen würde?! Weshalb sollte man ihr aber einen Einzel-Palast gönnen? Hört sich teuer an, da die Dame dann alleine einen ganzen Sack Reis auffuttert. Ihrer Figur tut das bestimmt nicht gut. Wieder kommt ein Wechselspiel von Licht und Schatten ins Spiel: Zwar ist der Bau vieler Paläste teurer im Unterhalt. Der Lohn liegt jedoch in den Siegpunkten. Am Ende jeden Monats erhält man einen Siegpunkt für jeden eigenen Palast. Je früher man also Neubauten ins Auge fasst, desto mehr Punkte werfen diese ab. Auch die Hofdame ist übrigens ausschließlich für Siegpunkte zuständig. Sie bringt einen in jeder Runde.

Wer als mögliche Aktion ein Privileg gegen Geld kauft, erhält dafür ab sofort ebenfalls rundenweise Siegpunkte. Um die sonstigen Siegpunktquellen kurz anzureißen: Eine weitere Aktion schüttet direkt einmalig Punkte aus. Wer vorher den Gelehrten angestellt hat, erhöht die Anzahl der Siegpunkte während dieser Aktion. Eine weitere Kombination aus Ressourcen und Angestellten wird von den Raketen und den Feuerwerkern gebildet. Zwei Mal im Jahr wird als Ereignis gefeiert. Wer dabei die meisten Raketen verfeuert, erhält zusätzliche Siegpunkte. Bei Spielende bringt jede noch in Lohn und Brot stehende Person zwei Siegpunkte ein. Ebenfalls punkten zum Schluss die Mönche, die während des sonstigen Spiels nur beten und Reis essen. Schließlich können übrig gebliebene Ressourcen noch in einem mageren Verhältnis in Siegpunkte umgesetzt werden. Der Strom an Siegpunkten wird also aus vielen Nebenflüssen gespeist.

Der Schlüssel zum Sieg liegt in der richtigen Schwerpunktsetzung. Wie genau diese aussehen kann, unterscheidet sich von Partie zu Partie, denn entscheidend für die Strategie ist die Reihenfolge der Ereignisse. Nur die ersten beiden Monate IM JAHR DES DRACHENs sind friedlich und dienen dem Aufbau. Was dann kommt, wird zu Spielbeginn per Zufall ausgelegt. Dadurch kann es zu den unterschiedlichsten Abläufen kommen und andere Richtungsentscheidungen erfordern. Liegen die beiden Hungersnöte etwa zeitlich nah zusammen, ist der Zugriff auf die Aktion Ernte umso umkämpfter. Nach der zweiten Hungersnot jedoch braucht man die Bauern nicht mehr. Bei unvermeidlichen Entlassungen ist die Wahl dann leicht. Liegen die Ereignisse zeitlich weit auseinander, muss man die passenden Angestellten vielleicht lange beherbergen, obwohl sie zwischendurch nichts leisten und nur einen wertvollen Platz im Palast belegen.

Das einzige Glückselement während des Spiels ist die zufällige Gruppierung der Aktionen. Dem Startspieler ist dies egal, da er die freie Auswahl hat und die gewünschte Aktion immer ausführen kann. Schon den nächsten Spieler kann es aber blöd erwischen, wenn ihm vielleicht zwei Aktionen gleich wichtig sind. Werden beide ausgerechnet in dieselbe Gruppe gemischt, die noch dazu der Startspieler besetzt, kann ihn dies tüchtig zurückwerfen. Klingt akademisch? Kommt aber immer wieder vor!

So richtig frustrierend kann das Spiel werden, wenn man nur noch gegen den Zerfall kämpft. Wer schon einige Personen entlassen musste, blutet wegen der fehlenden Unterstützung durch die Fachkräfte weiter aus. Währenddessen wächst der Abstand auf der Siegpunktleiste immer weiter.

Oft genug ging ein Spieler bereits während der Mitte des Spieljahres in Führung und konnte nur selten wieder eingeholt werden. Viel Spielerfahrung hilft dabei, hier das Ruder noch herumzureißen. Aber mancher Spieler hat nach einer – manchmal auch nur vermeintlich – aussichtslosen Partie einfach keine Lust mehr, in die chinesische Provinz zurückzukehren. Wer sich aber der Herausforderung erneut stellt, erlebt einen hohen Spielreiz beim Überstehen der Katastrophen. Bei jeder kleinen Entscheidung muss man abwägen zwischen kurzfristiger Stabilisierung und langfristigem Ertrag. Da gilt zu beherzigen, was die Spielregel nach Konfuzius empfiehlt: „Wer in kleinen Dingen kein Ziel hat, dem misslingt auch der große Plan.“

Kathrin Nos

POSTSCRIPTUM:

Bild von Im Jahr des Drachen

Im Jahr des Drachen ist sicherlich der anspruchsvollste Teil der Spieletrilogie von Stefan Feld bei Alea, die von Notre Dame und Um Ru(h)m und Ehre komplettiert wird. Erwartungsgemäß ändert sich dies auch durch die kleinen Erweiterungen der Schatzkiste nicht. Eigentlich ist das Spiel schon komplett und wunderbar austariert und scheint wenig Ansatzmöglichkeiten für Erweiterungen zu bieten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass nur zwei kleine Details hinzugefügt werden.

  • Als ob das Reich der Mitte nicht schon genügend Aufgaben in einem Jahr zu meistern hätte, gilt es nun nebenbei noch die große Mauer zu errichten. Dafür gibt es eine achte Aktionsmöglichkeit. Jeder Spieler kann jedoch nur sechs Mauerteile beitragen. Der Mauerbau bringt kleine Nebeneinnahmen in Form von Siegpunkten, Personenpunkten, Geld, Palästen, Reis oder Feuerwerkskörpern. Eine genügend lange Mauer kann während des Einfalls der Mongolen und vor der Schlusswertung einige Siegpunkte bringen.
    Während zu dritt die Spieler wohl oft bessere Alternativen als den Mauerbau vorfinden werden, bietet er in voller Besetztung einige neue Optionen und schmälert ein wenig die Nachteile des letzten Spielers.
  • Die Superereignisse bringen Schwung ins chinesische Sommerloch. Zu Spielbeginn wird dazu ein weiteres Ereignis zufällig ausgelegt, das gegen Ende des siebten Monats eintritt. Dies kann eine zweite Buddhawertung sein, aber auch den Verlust aller Privilegien bedeuten.
    Während sich die große Mauer noch gut ignorieren lässt, sollten zumindest einige dieser Superereignisse Teil eines jeden großen Plans sein.

Die beiden Erweiterungen gehören in die Kategorie netter Fingerübungen. Sie funktionieren und bieten ein wenig Abwechslung. Vor allem sind sie ein guter Anlass, mal wieder ein paar Jahre im Reich des Drachen zu verbringen. Sonderlich mehr Spielspaß oder spielerische Meilensteine für das allerdings auch so schon reizvolle Spiel sollte man von ihnen nicht erwarten.

Peter Nos

Zwei von drei weisen Sprüchen
Prädikat
: Zwei von drei weisen Sprüchen

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