Die Legenden von Andor

Erstveröffentlichung im Dezember 2012 in der Fairplay 102.
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Schuster oder Leistung?

Nach allem was passiert ist, kann ich diese Rezension kaum ohne Vorgeschichte starten. Mit viel Aufwand organisierte der Verlag Kosmos im Vorfeld zur Erscheinung des Spiels ein sogenanntes „Alternate Reality Game“ (kurz: ARG). Das als eine Art moderne Schnitzeljagd, das Mitspieler aus ganz Deutschland ansprach und erforderte. Dazu mussten sie zusammenarbeiten, denn die Informationen waren so aufgeteilt, dass die Einzelteile allein nicht weiterhalfen. Das führte nicht nur thematisch – einzelne Charaktere aus dem Spiel fanden sich auch im ARG wieder – sondern auch spielmechanisch in die fiktive Welt von Andor ein. Denn auch hier gilt: Nur gemeinsam sind die Spieler stark.

Wer sich nun dem Spiel zuwendet, wird mit einer weiteren Neuheit konfrontiert: Der sogenannten „Losspiel-Regel“. Anstelle alle Spielregeln vollständig aufzulisten, werden sie hübsch portioniert häppchenweise ins Spiel integriert. Das führt zu einer deutlich leichteren Verdauung. Doch manch einem „Experten“ stößt dies unangenehm auf und verursacht beinahe schon Sodbrennen. Denn wer ein bestimmtes Detail nachschlagen möchte, sucht sich ein wenig orientierungslos durch das Material: „Wo stand das noch mal …?“ Davon abgesehen gilt: Der Aufbau ist logisch, die zu befolgenden Regeln sind intuitiv. In meinen Runden habe ich erlebt, wie durch die schrittweise Einführung jede Einzelheit viel besser verinnerlicht wird. Gerade für Runden, die sich gemeinsam das Spiel erarbeiten, bietet das neue Konzept eine gute Einführung.

Die ersten Legenden mit Neulingen dauern. Wer als erfahrener „Andorianer“ mitspielt, weiß, was wann passiert und will den Mitspielern weder den Spaß verderben noch ihnen den Lerneffekt zerstören. Diese selbst auferlegte Zurückhaltung bedeutet: Das Spielen in vielen verschiedenen Runden und mit unterschiedlichen Spielern wird so eher zum Nachteil. Und um auch die nachfolgenden Legenden kennenzulernen, braucht es eine beständige Spielrunde. Daher haben Peter und ich an vielen Abenden zu zweit die Reise nach Andor gewagt. Ganz durch sind wir noch nicht – bei der letzten Legende haben wir aber schon am Ziel gekratzt.

Doch ich sollte allmählich mal zur Sache kommen. In ANDOR schlüpft jeder Spieler in die Rolle eines Helden. Nach bester Fantasy-Manier stehen ein Zwerg oder ein Krieger, ein Magier oder ein Bogenschütze zur Auswahl. Ganz politisch korrekt kann sich jeder entweder die männliche oder die weibliche Version seiner Figur aussuchen – beide besitzen vollkommen identische Fähigkeiten und unterscheiden sich ansonsten nur in Namen und Aussehen. So genannte „Legendenkarten“ führen ins aktuelle Szenario ein und beschreiben den Aufbau.

Um ihr Ziel zu erreichen, bewegen sich die Helden über den Plan und agieren dort. Jede Bewegung von einem Feld zum nächsten kostet eine Zeiteinheit, die für jeden Helden individuell auf einer Skala angezeigt wird. Nach jeweils sieben Zeiteinheiten endet für diesen Helden der Tag. Außer er macht Überstunden – hierfür muss er „Willenskraft“ investieren. Diese „Währung“ erfüllt so ziemlich universale Zwecke. In Kämpfen wird sie reduziert und kann zum Ableben des Helden führen. Ihr Füllstand kann – je nach Held – zu stärkeren Eigenschaften im Kampf führen. Und für wichtige Erledigungen lässt sich mit ihr Zeit kaufen.

Da die Spieler einerseits reihum an der Reihe sind, aber andererseits in ihrem jeweiligen Zug unterschiedlich viel Zeit verbrauchen, ist „Zeit“ ein durchaus dehnbarer Begriff. Nehmen wir an, zwei Spieler wollen sich treffen. Während einer eine lange Reise auf sich nimmt, macht der andere nur einen Schritt in die benötigte Richtung. Nach Erledigung ihrer Vorhaben befindet sich der erste am Ende des Tages, der andere hat jedoch noch genügend Zeit für weitere Unternehmungen. Diese thematisch-logische Ungereimtheit außen vorgelassen, ergibt sich jedoch spielmechanisch einiger Raum für dringend benötigte Taktik. Denn für Zeit gilt vor allem eines: Sie ist knapp!

Sobald alle Spieler ihren eigenen Tag abgeschlossen haben, geht es zur Sache: Ein Ereignis kann schöne oder weniger schöne Dinge verursachen. Alle Monster bewegen sich entlang eines fein abgestimmten Pfeilrasters auf dem Spielplan. Und schließlich bewegt sich der „Erzähler“ um ein Feld auf seiner eigenen Leiste voran. Diese Leiste verhilft jeder Legende zu ihrer eigenen Dynamik und bildet damit die Kerninnovation bei den LEGENDEN VON ANDOR. Je nach gespielter Legende werden auf bestimmten Feldern dieser Leiste Ereignisse ausgelöst, welche die Geschichte voranbringen. Es erscheinen neue Monster, Mitstreiter, andere Figuren oder Gegenstände oder die Spieler erhalten neue Aufgaben. Die Geschwindigkeit des Erzählers kann von den Spielern beeinflusst werden – denn erfolgreiche Kämpfe gegen die Monster beschleunigen die Bewegung des Erzählers. Das Unangenehme daran: Gelangt der Erzähler auf das letzte Feld, ohne dass die Spieler ihre Aufträge erfüllt haben, gilt ihre Mission als gescheitert.

Doch nicht nur das Voranschreiten des Erzählers setzt die Spieler unter Druck. Auch die Monsterbewegung kann zur vorzeitigen Niederlage führen. Alle Wege führen für sie in Richtung der Burg. Und sobald eine spielerzahlabhängige Anzahl an Monstern in der Burg eingefallen ist, gilt diese als überrannt und eingenommen. Also am liebsten alle Monster umhauen?! Doch jeder Kampf kostet Zeit und treibt wiederum den Erzähler voran. Eine reizvolle Gratwanderung!

Außer Bewegung und Kampf stellen sich den Helden auch Transportaufgaben nach dem Schema „hole dieses Gut hier ab und bringe es dort hin“. Manches Mal müssen zunächst Dinge unter verdeckten Plättchen gefunden werden, indem ein Held dorthin reist. Da jede Bewegung wieder Zeit in Anspruch nimmt, gilt es auch hier genau zu kalkulieren. Ohne das Quäntchen Glück beim Aufdecken kann die Zeit auch unverschuldet ausgehen.

Der Kampf fällt gemeinsam deutlich leichter. Jeder Teilnehmer bringt seine eigene Stärke ein. Diese können die Helden im Laufe einer Partie verbessern. Je nach Charakter steht jedem eine vorgegebene Menge an Würfeln zur Verfügung. Die höchste Augenzahl aus dem Ergebnis bestimmt die Stärke des Angriffs. Für die Monster gilt gar, dass jeder Würfel mit der gleichen Augenzahl zählt. Ein Sechserpasch der Monster kann somit fatale Folgen haben. Denn die Helden addieren ihre Stärke- und Würfelpunkte und vergleichen sie mit der Summe des Monsters. Die Differenz wird der unterlegenen Partei von den Willenspunkten abgezogen – im Fall der Helden gilt dies für jeden! Der gemeinsame Kampf birgt also auch gemeinsames Risiko.

Je höher die Anzahl der eigenen Willenspunkte, desto mehr Würfel hat ein Held für den Kampf zur Verfügung. Zwar zählt am Ende nur ein Würfel, aber die Chance auf ein hohes Ergebnis erhöht sich freilich durch mehr Auswahl. Jedes besiegte Monster schüttet eine Belohnung in Form von Willenspunkten oder Geld aus. Letzteres kann in den Kauf von Stärkepunkten (thematisch vielleicht zu verstehen als bessere Waffen oder Rüstung?) oder in hilfreiche Gegenstände investiert werden.

Es gibt damit viel zu entscheiden. Die Gruppe muss gut kooperieren und ihre Güter clever verteilen. Wer eine Legende zum ersten Mal spielt, wird weniger zielgerichtet vorgehen. Die Geschichte entfaltet sich erst während der Partie. Für manch gestandenen Brettspieler ist das eine durchaus harte Prüfung. Wer sich auf Abenteuer begibt, erlebt nun einmal Überraschungen. Während die Geschichten einiger Legenden bei mehrfachem Spielen kaum noch Varianz bieten, ist die dritte Legende auf Abwechslung ausgelegt. Kaum eine Ausgangssituation gleicht der anderen.

Das Material ist üppig und herausragend illustriert. Die Vorbereitung jeder Legende bereitet erst einmal Arbeit – immer andere Karten, Figuren oder Gegenstände gilt es zu suchen und hinterher wieder geschickt zu verstauen. Keinen Spaß macht das Einsetzen auf den Spielplan. Die Nummerierung scheint keinem Schema zu folgen, sie erinnert eher an eine Fingerübung von Statistik-Studenten. Und so sucht man beim Einsetzen des Trolls, beim Auftreten von Prinz Thorald und wann immer noch irgendein Material auf den Spielplan gebracht oder dort bewegt wird.

Wer sich von der Welt von Andor bezaubern lässt, kann solche kleineren Hemmnisse leicht bewältigen. Schon während der ersten Begegnung habe ich den Sog gespürt, der mich tief in diese fantastische Welt eintauchen lässt. Zugleich ist jeder Besuch in überschaubarer Zeit absolviert, eine Rückkehr der Helden also noch am selben Abend möglich. Aus meiner Sicht entpuppt sich das mit starkem Marketing angekündigte Spiel nicht als heiße Luft, sondern als Brettspiel-Innovation, die es in sich hat.

Kathrin Nos

Bild von Die Legenden von Andor

POSTSCRIPTUM:

Da es mittlerweile mit dem Sternenschild und der Reise in den Norden zwei umfangreiche Erweiterungen in der Welt Andors gibt, berichten wir in den nächsten Wochen über unsere aktuellen Abenteuer in dieser Welt. Doch bevor Kathrin weiter über Monster, Helden und Mythen erzählen darf, bringe ich heute ein paar trockene Zahlen.

Denn ein besonderer Reiz Andors sind die nichttrivialen Wahrscheinlichkeiten. Wie sich das Würfelergebnis bei zwei Würfeln mit und ohne Helm unterscheidet und weshalb der Magier selbst mit nur einem Würfel einer toller Kämpfer ist, lässt sich mit etwas Nachdenken gerade noch im Kopf berechnen. Was ist aber mit dem Bogenschützen, lohnt ein Helm für den Zwerg, und wann ist es angeraten gemeinsam in den Kampf zu ziehen?

Dazu ein paar Fakten (jetzt angepasst, hoffentlich nicht nochmal falsch berechnet):

  • Mit einem Würfel ist die durchschnittliche Kampfstärke (dKs) natürlich 3,5+Stärke.
  • Ein Bogenschütze mit zwei Würfeln hat eine dKs von 4,25+Stärke.
  • Mit zwei Würfeln ist die dKs 4,5+Stärke.
  • Ein Bogenschütze mit drei Würfeln hat eine dKs von 4,7+Stärke.
  • Ein Bogenschütze mit vier Würfeln hat eine dKs von 4,9+Stärke.
  • Mit drei Würfeln ist die dKs 5+Stärke.
  • Auch der Magier hat eine dKs von 5+Stärke.
  • Monster (oder Helden mit Helm) mit zwei Würfeln haben eine dKs von 5,1+Stärke.
  • Auch ein Bogenschütze mit fünf Würfeln hat eine dKs von 5,1+Stärke.
  • Krieger ohne Helm aber mit vier Würfeln haben eine dKs von 5,2+Stärke.
  • Monster (oder Helden mit Helm) mit drei Würfeln haben eine dKs von 6,3+Stärke.
  • Monster (oder Krieger mit Helm) mit vier Würfeln haben eine dKs von 7,5+Stärke.
  • Mit einem schwarzen Würfel ist die dKs 9+Stärke.
  • Ein Krieger mit Helm, Runensteinen und 4 Würfeln hat eine dKs von 9,8+Stärke.
  • Der Magier mit Runensteinen hat eine dKs von 10,7+Stärke.
  • Mit zwei schwarzen Würfeln ist die dKs 12,6+Stärke.

Der Magier mit Runensteinen sollte also in keinem Kampf fehlen. Zusammen mit Verbündeten ist er noch mächtiger. Es fällt auf, dass der Bogenschütze gar nicht soooo viel schlechter ist als die anderen Helden. Dazu muss er aber sehr genau beim Würfeln aufpassen und die Erwartungswerte im Kopf haben. Hat er zwei Würfel zur Verfügung, ist die Überlegung einfach: Ist das erste Ergebnis kleiner als 4, würfelt er erneut und kommt so auf einen Erwartungswert von 4,1. Genauso geht er bei drei Würfeln vor: Ist das erste Ergebnis kleiner als 5, so würfelt er erneut, ist das zweite kleiner als 4, so würfelt er ein drittes Mal. Daraus folgt der Erwartungswert von 4,6 etc. Da der Erwartungswert auch bei 4 Würfeln unter fünf bleibt, lautet die Regel für den Bogenschützen:

  1. Versuche schon bei einer Fünf nicht nochmal zu würfeln. Beim vorletzten Wurf ist es besser, sich sogar mit einer Vier zu begnügen.

Dass bei Andor oft die Zeit knapp und Willen ein kostbares Gut ist, sollten Helden versuchen, Kämpfe in einer Runde zu beenden. Selbst gegen vermeintlich schwache Monster lohnt zumindest am Anfang der gemeinsame Kampf. Ein Held mit drei Würfeln und Stärke 3 gegen einen hundsnormalen Gor benötigt allein etwa 5 Stunden, um einen Kampf zu beenden. Denn pro Kampfrunde verliert der Gor nur durchschnittlich (5+3)-(5,1+2)=0,9 Ausdauer. Zu zweit ist geht das in einer Runde mit zwei Stunden: 16-7,1=8,9.

Zu guter Letzt: Zwerge finden Helme ziemlich albern. Für die zwei Gold kaufen sie lieber gleich zwei Stärkepunkte, das ist mehr als jeder Helm selbst bei drei Würfeln bringen kann.

Peter Nos

Bild von 2 von 3 Elfen
Prädikat
: 2 von 3 Elfen

4 Kommentare

  1. In die Stochastik oben hat sich fürchte ich teils der Fehlerteufel eingeschlichen. 🙂

    Bogenschütze mit zwei Würfeln, wenn bei einer 3 oder schlechter neu gewürfelt wird: (3.5*3 + 4 + 5 + 6) / 6 = 4.25). Hast du hier auch bei 4 neu geworfen (gäbe 4.16)?
    Der Bogenschütze mit 3 Würfeln ist etwas komplizierter – da der Erwartungswert aus zwei Würfen (wie oben berechnet) > 4 ist, wirft man beim ersten mal auch bei einer 4 nochmal (außer man weiß, dass die 4 eh ausreicht). Insofern ergibt sich (4*4.25 + 5 + 6)/6 = 4.66.
    Mit 4 Würfeln sind es dann analog 4.94, mit 5 Würfen 5.13.

    Wirft man nur 2 Würfel und nimmt den höheren liegt der Erwartungswert bei (1*1 + 3*2 + 5*3 + 7*4 + 9*5 + 11*6) / (6*6) = 4.47. (Deine 4.7 kann ich nicht nachvollziehen)
    Mit Helm sind es 0.58 mehr (5.05, da passen die 5.1).

    Die Berechnung vom Magier oder normalen Held mit Runensteinen verstehe ich nicht ganz, wie kommen die 12.7 zustande, wenn die größte Seite des schwarzen Würfels 12 zeigt?)
    Die genaue Verteilung der Würfelseiten habe ich gerade nicht im Kopf (6,8,8,10,10,12? das wären dann 32/3 = 10.66 für den Zauberer und 9 für alle anderen Helden).

    (die Varianten mit 3+ Würfeln für normale Helden mit/ohne Helm habe ich gerade aus Zeitgründen nicht gerechnet, ließe sich aber nacholen) 🙂

    Grüße, Dank für die lesenswerte Seite und auch die Anregung Andor mal mathematisch anzugehen! 🙂

  2. Die 2 schwarzen Würfel waren auf Monster und nicht auf dem Magier bezogen, glaube ich.
    Zumindest wäre das für mich die einzige logische Erklärung. (2schwarze Würfel plus paschregel) sollte für Spieler hat Altäre ja unmöglich sein.

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